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H-Soz-Kult, 18.11.2013

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:

Arne Karsten, Seminar für Geschichte, Bergische Universität Wuppertal

Wer zu Beginn der 1990er-Jahre an der traditionsreichen Georg-August-Universität zu Göttingen studierte, konnte in den ebenso gelehrten wie geistreichen Vorlesungen des Mediävisten Hartmut Boockmann mitunter eine mild ironische Polemik hören über die unerschütterliche Präsenz der „Lehenspyramide“ in deutschen Schulbüchern. Obwohl die wissenschaftliche Forschung seit Jahrzehnten schlagend nachgewiesen habe, dass die hübsch hierarchische Gliederung der Gesellschaft nach „Kasten“, vom König über den Adel, dann das Bürgertum und schließlich die Bauern die historische Realität absurd verzeichne, werde weiterhin Schülergeneration um Schülergeneration mit diesem Bild konfrontiert. Offensichtlich brauche es lange, bis die Ergebnisse der Forschung Berücksichtigung in den schulischen Lehrplänen finde.

Nun hat der technische Fortschritt inzwischen andere Medien neben das gute, alte Schulbuch treten lassen. Die hier zu besprechende DVD etwa bietet qualitativ hochwertiges Material an bewegten Bildern, und zwar in ansprechender Mischung aus Außenaufnahmen und historischen Bildquellen, teils mit Off-Kommentaren, teils mit historisierender Musik unterlegt sowie mit Kommentaren ausgewiesener Fachwissenschaftler. Das Ziel aber ist das gleiche geblieben wie einst in den Illustrationen herkömmlicher Schulbücher: den Schülern soll ein einprägsames Bild der Lebenswelt um 1500 vermittelt werden, das ihrem Verständnishorizont gerecht wird, dabei aber zugleich den aktuellen Stand der Forschung berücksichtigt.

Was den ersten Punkt angeht, die schülergerechte Vermittlung des Stoffes, so wird man feststellen können, dass die Beiträge der DVD nichts zu wünschen übrig lassen. Die Präsentation des Bildmaterials erfolgt abwechslungsreich, aber nicht hektisch, die Erzählung des historischen Stoffs ist nüchtern und präzis, aber nicht gewaltsam vereinfachend, und den Fach-Historikern, vor allem der Münsteraner Frühneuzeit-Professorin Barbara Stollberg-Rilinger, gelingt es glänzend, oftmals komplexe Zusammenhänge in klaren, prägnanten Aussagen auf den Punkt zu bringen.

Die Aufbereitung der Themen erfolgt in einem Hauptfilm, der, einer musikalischen Ouvertüre vergleichbar, die „Leitmotive“ vorstellt; diese werden dann in Gestalt von sechs Modulen mit jeweils etwa 15 Minuten Länge entwickelt. Es handelt sich um die Themen: 1. Herrschaft, 2. Wirtschaft, 3. Medienrevolution, 4. Humanismus und Renaissance, 5. Die Entdeckung der Welt, 6. Katharina Tucher – Alltagsleben in einer Patrizierfamilie. Die Module 1 bis 5 decken die wesentlichen Aspekte frühneuzeitlicher Lebenswirklichkeit ab (es fehlt die Religion, aber der wird mit Teil 2 der „Welt um 1500“ eine eigene DVD gewidmet), Modul 6 bietet eine (mitunter leicht das Komische streifende) szenische Aufbereitung des „Alltagslebens“ der Nürnberger Patrizierin Katharina Tucher für die Sekundarstufe I.

Die Module sind ihrerseits unterteilt in einen Hauptabschnitt und verschiedene Kapitel, etwa im Falle des Moduls 1, „Herrschaft“, in: „Kaiser und Reich“, „Städte und Bürger“, „Oberitalien und Machiavelli“ sowie „Territorialisierung und Reichsreform“. Auf diese Weise lässt sich die Verwendung des Filmmaterials im Unterricht gut dosieren.

Aber nicht nur didaktisch überzeugt die DVD, auch der Anspruch, den aktuellen Stand der Forschung zu präsentieren, kann als weitgehend eingelöst gelten. Das Bild der europäischen Gesellschaft an der Schwelle zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit wird durchaus differenziert gezeichnet, das historisch Fremde in aller Regel nicht weggewischt, sondern erklärt: etwa die grundlegenden Unterschiede der mittelalterlichen Herrschaftsorganisation durch das Lehnswesen mit seiner ausgeprägten Individualität im Verhältnis zwischen Lehnsherr und Vasall einerseits und andererseits dem modernen, anonymen Personenverbandsstaat (Modul 1, „Herrschaft“, Kapitel „Territorialisierung und Reichsreform“). Zutreffend wird auf die Abhängigkeit frühneuzeitlicher Herrscher von der Zustimmung ihrer in den Ständevertretungen organisierten Untertanen hingewiesen und auch die gute, alte, verkehrte Lehnspyramide tritt nur noch in rudimentärer Form auf, als ein zweistufiges Modell, eben der Beziehung zwischen Lehnsherr und Vasall – in dieser Form durchaus sinnvoll.

Auch die Module „Wirtschaft“, „Medienrevolution“ sowie „Humanismus und Renaissance“ zeichnen anschauliche, aber komplexe Bilder der historischen Wirklichkeit und geben kaum Anlass zur Kritik. Nur das Modul „Die Entdeckung der Welt“ wartet mit einigen Klischees auf, die von der historischen Forschung längst als moderne Mythen entlarvt sind, vor allem ist dabei die Fortschrittsfeindlichkeit „der“ Kirche zu nennen. Das hier zugrunde liegende und im Film weiter gepflegte Bild „der“ katholischen Kirche stammt aus dem 19. Jahrhundert und hat mit der vielfältig-widersprüchlichen Realität der frühen Neuzeit nichts zu tun. Viele Protagonisten des wissenschaftlichen Fortschritts im 16. und 17. Jahrhundert waren Geistliche (zum Beispiel Nikolaus Kopernikus). Der in diesem Zusammenhang unvermeidlich angeführte Fall Galilei hat, wie wir spätestens seit den Studien von Mario Biagioli wissen[1], viel mit politischen Krisen und personalpolitischen Netzwerken am Papsthof des Jahres 1632 zu tun, aber herzlich wenig mit einer generellen Wissenschaftsfeindlichkeit „der“ katholischen Kirche. Wie übrigens jeder Rom-Reisende noch heute sehen kann, wenn er den Petersdom besucht, wo Berninis gewaltiger Bronzebaldachin verziert ist mit Sonnensymbolen – der persönlichen Imprese Papst Urbans VIII. Barberini (1623–1644), der über viele Jahre hinweg zu Galileos wichtigsten Förderern zählte. Und im Palast der Familie dieses Papstes entstand just zur Zeit des Galileo-Prozesses in den Jahren 1629–33 mit Andrea Sacchis „Triumph der göttlichen Weisheit“ ein Deckenfresko, das zugleich ein Triumph des heliozentrischen Weltbildes ist: Mitten in Rom, in den Repräsentationsräumen der Familie des regierenden Papstes entstand ein Bild, in dessen Zentrum die Sonne steht, während die Erde unübersehbar an den Rand gerückt ist.

Doch wie gesagt: sieht man von dieser punktuellen Verzeichnung ab, so entwickelt die DVD über „Die Welt um 1500“ ein Bild der Renaissance, das wissenschaftlichen Ansprüchen weitgehend gerecht wird. Da sie zudem reichhaltiges didaktische Begleitmaterial bietet (mit Arbeitsblättern, Arbeitsmaterialien wie Bild- und Textquellen, Zeitleisten etc. sowie weiterführenden Informationen, Links und einem, etwas knappen und leider nicht kommentierten, Literaturverzeichnis) kann sie für den Einsatz im Geschichtsunterricht der Sekundarstufen I und II nur empfohlen werden.

Anmerkung:

[1] Mario Biagioli, Galileo, Courtier. The Practice of Science in the Culture of Absolutism, Chicago 1993; dt. Ausgabe: Galileo der Höfling. Entdeckungen und Etikette. Vom Aufstieg der neuen Wissenschaften, Frankfurt am Main 1999.

http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21247