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PD Dr. Hans-Joachim Jakob (Goethe-Jahrbuch 2019, Band 136, S. 353-355), 30.06.2020

Ein Spezialgebiet der Anne Roerkohl dokumentARfilm GmbH ist die Herstellung von Schulfilmen für den Deutschunterricht. Bei den Goethe-DVDs handelt es sich um die zwölfte und dreizehnte Produktion der Reihe deutsch interaktiv.
Die erste DVD ist den Traditionen des Hauses folgend in den Hauptfilm über Leben und Œuvre des behandelten Autors und einzelne Module - in diesem Fall - über das schulkanonische Hauptwerk des Dichters aufgeteilt. Die drei Module befassen sich unter konsequent theaterpraktischer Perspektive mit dem Vergleich von zwei aktuellen Inszenierungen des Faust I (Modul 1), mit den Rolleninterpretationen der Schauspieler aus einer Musterinszenierung (Modul 2) und mit der Entstehungsgeschichte der genannten Inszenierung (Modul 3). Die zweite DVD greift aus Goethes für den Deutschunterricht relevanten Werken Götz von Berlichingen (Modul 1), Die Leiden des jungen Werthers (Modul 2), Iphigenie auf Tauris (Modul 3) und Der Zauberlehrling (Modul 4) heraus.

Die einzelnen Module sind wiederum weiter parzelliert, z.B. bei Modul 1 von Faust I in Inhalt, Inszenierungen und Werkgeschichte. Die Informationseinheiten sind so konzipiert, dass sie jeweils für sich verständlich sind und weder die Kenntnis weiterer Untermodule noch die des Hauptfilms voraussetzen. Nicht auf den DVDs befindet sich das didaktische Begleitmaterial, das aber auf der Homepage der Firma verfügbar ist. Der Hauptfilm der ersten DVD führt kompakt in Herkunft, Erziehung und wichtige Lebensstationen Goethes ein. Unklar erscheint der Hinweis auf die Uraufführung des Faust mit Einblendung eines Theaterzettels vom 29. August 1829, zumal der explizite Bezug zur Braunschweiger Inszenierung Ernst August Klingemanns erst in Modul 1 hergestellt wird. Angesichts der ausführlichen Darlegung des Sensationserfolgs von Werther vermisst man doch die zumindest kurze Klassifizierung weiterer, wenn auch nicht annähernd so erfolgreicher Romane Goethes.

In jeder Hinsicht informativ sind die eingestreuten Statements von Anne Bohnenkamp-Renken, die auch in den einzelnen Modulen schwierige Stellen, etwa im Faust, sachkundig erläutern.
Modul 1 bezieht seinen Reiz aus dem Vergleich von Ryan McBrydes Inszenierung des Faust am Alten Schauspielhaus Stuttgart 2016/17 und der Version von Jasper Brandis am Landestheater Detmold 2015/16. McBryde kreiert mit aufwendigem Bühnenbild ein multimediales Theaterspektakel mit Freud'schem Ansatz, während Brandis in der Detmolder Inszenierung die Faust-Tradition in Wanderbühne und Puppentheater herausarbeitet. Die Ausführungen zur Werkgeschichte rekonstruieren den Fall der Susanna Margaretha Brandt und den Diskurs zum Kindsmord im Drama des 18. Jahrhunderts.
In Modul 2 kommen die Schauspieler zu Wort, die in der Stuttgarter Inszenierung Faust, Mephisto und Gretchen verkörpern. Tilman Kuhn (Faust) betont die Komplexität der Rolle und Fausts Changieren zwischen der Verzweiflung über die eigenen Erkenntnisgrenzen und durchaus zärtlichen Momenten des Sich-Selbst-Vergessens mit Gretchen. Christoph Bangerter (Mephisto) legt seine Repräsentation des Bösen eher spielerisch an. Katharina Paul (Gretchen) demonstriert Distanz zum Frauenbild des frühen 19. Jahrhunderts, sieht Gretchen aber keineswegs eingeschränkt auf die Rolle des Opfers - Gretchen sei verletzlich, zeige aber auch Entschlossenheit und Stärke. Modul 3 stellt das performative Herzstück der Faust-DVD dar. In sechs Unterkapiteln entsteht vor den Augen des Zuschauers die spektakuläre Stuttgarter Inszenierung - von der ursprünglichen Entscheidung des Intendanten Manfred Langner für das Stück bis zum Premierenabend. Sehr plastisch sind die sechswöchigen Probenarbeiten eingefangen, wobei die Theaterarbeit hinter den Kulissen (Kostüme, Dekoration, Tontechnik) besonders gewürdigt wird.

Die zweite DVD unternimmt eine so rigorose wie einsichtige Werkauswahl und kann sich mit dem Zauberlehrling und Iphigenie auf Tauris an die Traditionen des muttersprachlichen Unterrichts im 19. Jahrhundert anschließen. Ausnehmend zeitgemäß wirken Götz und Werther.
In Modul 1 gewinnt Goethes Historienspektakel Götz von Berlichingen mit der Inszenierung der Burgfestspiele Jagsthausen 2016 eine fulminante Gestalt. Die Auflösung der drei dramatischen Einheiten, im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts eine klare Abkehr von einer domestizierenden Regelpoetik, wird für den Zuschauer nahezu körperlich spürbar - das Ritterstück entfaltet sich in über 50 Szenen, präsentiert über 30 Figuren und umfasst einen Handlungszeitraum von fast elf Jahren.
Das Untermodul Werkgeschichte und historischer Rezensionen legt Goethes versierten Rekurs auf die erste politische und soziale Protestbewegung im deutschsprachigen Raum, die Bauernkriege, offen.
Werther erhält in Modul 2 eine dezidiert aktuelle Dimension durch die Verwertung von zwei Bühnenfassungen. Das Theater Erlangen gestaltete 2014/15 Werthers Leidensgeschichte als Ein-Personen-Stück und entwirft eindringliche Bilder der Isolation, der Weltabkehr, des Narzissmus und der Melancholie Werthers. Ganz anders ist die Umsetzung des Theaters Münster 2017/18: Werther, Lotte und Albert treffen sich auf einem Campingplatz und leben ihre Affekte hemmungslos aus. Die performativen Bearbeitungen werden wiederum durch das Untermodul Werkgeschichte biographisch geerdet, das Goethes unglückliche Leidenschaft fur Charlotte Buff rekonstruiert und den Werther gleichsam als Schlüsselroman lesbar macht.
Zwei denkbar unterschiedliche Inszenierungen stehen auch im Mittelpunkt von Modul3: Iphigenie auf Tauris. Die Fernsehfassung der Aufführung im Deutschen Theater Berlin von 1969 bildet mit ihrem extrem minimalistischen Bühnenbild und der formvollendeten Deklamation des Textes einen spürbaren Kontrast zur modernisierenden Interpretation des Rheinischen Landestheaters Neuss 2011/12, die den Originaltext kürzt, aktuelle Prosastücke implantiert, meta-theatralisch das soeben Gesagte immer wieder kommentiert und das Ende des Schauspiels komplett abwandelt. Das Untermodul Werkgeschichte bettet die Vollendung der Iphigenie-Versfassung in Goethes Auseinandersetzung mit Euripides und seine Studien zur antiken Kunst im Rahmen der Italienreise ein.
Modul 4 wählt eine genuin praktische Perspektive der Literaturvermittlung und hält von allen genannten Modulen den engsten Kontakt zur schulischen Behandlung Goethes, hier seiner Ballade Der Zauberlehrling. Die Kamera begleitet die Sprecherzieherin Inga Schwemin, die mit sieben Schülern der 6. Klasse im Pascal-Gymnasium in Münster den Zauberlehrling als Sprechchor einstudiert. Vor dem Auge des Zuschauers werden die graduellen Lernfortschritte der Schülergruppe unmittelbar deutlich.
Zusammenfassang: Regisseurin Cornelia Köhler wendet sich bei ihrer Goethe-Präsentation von einer trockenen Faktographie ebenso ab wie von langwierigen Textauslegungen und -erklärungen. Goethes Gedicht, seine Dramen und sein Roman erscheinen in ihrer konsequent herausgearbeiteten praxeologischen Dimension aufregend neu, zeitgemäß und vieldeutig.  Erfreulicherweise wird dabei nicht der Versuch unternommen, die Komplexität der Goethe'schen Texte zu bestreiten oder zu relativieren. Die DVDs sind für den Deutschunterricht der Sekundarstufe II bestens geeignet, aber auch für den germanistischen Lehrbetrieb an der Universität mindestens bis zum Bachelorabschluss.


PD Dr. Hans-Joachim Jakob, Universität Siegen